Gerade in unsicheren Zeiten zeigt sich besonders deutlich, welche zentrale Rolle ein stabiler Sozialstaat spielt. Ein leistungsfähiges öffentliches Gesundheitssystem sowie eine grundlegende soziale Absicherung – sei es durch Arbeitslosenversicherung oder bezahlten Krankenstand – haben sich in Krisensituationen als unverzichtbar erwiesen. Dennoch wurde der Sozialstaat in den vergangenen Jahren kontinuierlich geschwächt – so auch in Niederösterreich. Doch was genau versteht man unter dem Begriff Sozialstaat, und welche Aufgaben erfüllt er?
Sozialstaat: Was ist das?
Das grundlegende Ziel eines Sozialstaates ist die Förderung sozialer Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft. Er dient dazu, Menschen in herausfordernden Lebenssituationen wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter finanziell abzusichern und Einkommensunterschiede über die verschiedenen Lebensphasen hinweg auszugleichen. In Österreich bedeutet der Verlust eines Arbeitsplatzes oder eine ernsthafte Erkrankung nicht automatisch den finanziellen Ruin, da Sozialleistungen wie Krankenversicherungen oder Arbeitslosengeld existieren. Wer von einer schweren Krankheit betroffen ist, mag zwar Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, doch das eigene Ersparte wird nicht sofort aufgebraucht.
Die Absicherung von Einkommen, Gesundheitsversorgung und Bildung wird in Sozialstaaten nicht dem freien Markt überlassen. Vielmehr sorgt der Staat für eine flächendeckende Grundversorgung, die unabhängig von finanziellen Verhältnissen für alle zugänglich ist. Der Umfang dieser Absicherung variiert je nach politischer Lage: Beispielsweise entscheiden Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen darüber mit, ob eine angemessene Altersversorgung oder erschwinglicher Wohnraum Teil dieser Grundversorgung sein sollen.
„Der Sozialstaat ist der ‚soziale Kitt‘ in unserer Gesellschaft, sorgt für gesellschaftlichen Zusammenhalt und wirkt breiter Verunsicherung entgegen. Und das ist in Zeiten steigender Ungleichheit der Einkommen und der Vermögen wichtiger denn je“, schreibt die Arbeiterkammer in einem Bericht.
Ein gut ausgestalteter Sozialstaat trägt erheblich zur sozialen Stabilität bei. Er beruht auf dem Prinzip der Solidarität: Alle Bürgerinnen und Bürger leisten Beiträge, sodass jene, die auf Unterstützung angewiesen sind, nicht schutzlos dastehen. Die Vorteile des Sozialstaates kommen letztlich jedem zugute, wenngleich in unterschiedlichem Maße, abhängig von der jeweiligen Lebenssituation und finanziellen Lage.
Während nahezu alle modernen Staaten sozialpolitische Maßnahmen ergreifen, bestimmt erst deren Umfang, ob tatsächlich von einem Sozialstaat gesprochen werden kann. Der Begriff „Wohlfahrtsstaat“, eine direkte Übersetzung des englischen „welfare state“, wird häufig synonym verwendet. Manche differenzieren jedoch zwischen diesen Konzepten, indem sie dem Wohlfahrtsstaat eine weitergehende Rolle zuschreiben: Er beschränkt sich nicht nur auf den Schutz vor Notlagen, sondern zielt darauf ab, das allgemeine Wohl der Bevölkerung in sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Belangen zu fördern – ein Ansatz, wie er insbesondere in skandinavischen Ländern verfolgt wird.
Aufgaben und Leistungen des Sozialstaates
Die Maßnahmen des Sozialstaates greifen in verschiedenen Lebensphasen und Notlagen:
Gesundheitsversorgung
Bereits mit der Geburt eines Kindes treten erste sozialstaatliche Leistungen in Kraft, darunter Mutterschutz, der Mutter-Kind-Pass sowie kostenlose medizinische Versorgung im Krankenhaus. Auch bei späteren Erkrankungen oder Unfällen profitieren Menschen von Entgeltfortzahlungen, Krankengeld, medizinischen Behandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen. Während einige medizinische Leistungen mit Selbstbehalten verbunden sind, bleibt der Großteil der Gesundheitsversorgung für Patientinnen und Patienten kostenlos.
Bildung und Familienförderung
Familien und Kinder profitieren von Kindergärten, dem Recht auf Teilzeitbeschäftigung sowie finanziellen Unterstützungen wie der Familienbeihilfe. Im späteren Verlauf kommen weitere Angebote hinzu: kostenlose Schulbildung, Lehrmittel, Schulfreifahrten, Studienbeihilfe und öffentliche Universitäten. Diese Maßnahmen tragen dazu bei, Bildung für alle zugänglich zu machen, unabhängig von der finanziellen Situation der Familie.
Altersversorgung und Pflege
Mit zunehmendem Alter spielt der Sozialstaat eine zentrale Rolle in der Sicherstellung des Lebensstandards. Pensionen bieten finanzielle Sicherheit, und im Falle gesundheitlicher Einschränkungen stehen Pflegegeld, Hospizangebote und weitere Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung. Auch Menschen mit Behinderungen haben Anspruch auf finanzielle und arbeitsmarktbezogene Hilfen.
Daseinsvorsorge und öffentliche Infrastruktur
Unabhängig vom individuellen Lebensabschnitt gibt es zahlreiche soziale Leistungen, die kontinuierlich zur Verfügung stehen. Dazu zählen öffentlicher Nahverkehr, Müllabfuhr, Wasserversorgung, Parkanlagen, Schwimmbäder sowie sozialer Wohnbau mit Mietbeihilfen.
Armutsbekämpfung und soziale Sicherung
Falls eine berufliche Laufbahn nicht wie geplant verläuft, kann der Sozialstaat durch Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Sozialhilfe finanziell unterstützen. Arbeitsvermittlungen und Qualifizierungsmaßnahmen sollen helfen, möglichst rasch wieder eine Beschäftigung zu finden.
Wer trägt die Kosten des Sozialstaates?
Die finanziellen Mittel für die umfassenden Sozialleistungen stammen aus zwei Hauptquellen: den Sozialversicherungsbeiträgen und dem Steuersystem. Der größte Teil – rund 80 Prozent – wird von arbeitenden Menschen sowie Konsumentinnen und Konsumenten getragen. Ein erheblicher Anteil des Einkommens fließt in Form von Lohnsteuer und Sozialversicherungsabgaben an den Staat. Zudem leistet jede Person durch die Mehrwertsteuer bei jedem Einkauf einen Beitrag zum Staatshaushalt.
Das österreichische Steuersystem führt dazu, dass die Hauptlast von Arbeitseinkommen getragen wird, während Vermögende und große Unternehmen vergleichsweise wenig beisteuern. Nur etwa 1 Prozent des Staatshaushalts stammt aus vermögensbezogenen Steuern. Eine moderate Besteuerung großer Erbschaften und Vermögen könnte jährlich bis zu sechs Milliarden Euro zusätzlich in die Staatskasse bringen. Dennoch bleibt Österreich eines der Industrieländer, das seine wohlhabendsten Bürgerinnen und Bürger steuerlich am stärksten entlastet.
Ein starker Sozialstaat als Garant für gesellschaftlichen Zusammenhalt
Ein funktionierender Sozialstaat sichert nicht nur einzelne Bürgerinnen und Bürger ab, sondern stärkt die gesamte Gesellschaft. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, dass soziale Absicherungssysteme nicht nur Einzelne schützen, sondern auch wirtschaftliche Stabilität schaffen. Während konservative Kräfte den Sozialstaat häufig als Kostenfaktor betrachten, belegen zahlreiche Studien, dass er langfristig wirtschaftlichen Aufschwung fördert und gesellschaftliche Sicherheit gewährleistet. Ohne ihn wäre die soziale Ungleichheit drastisch höher, und viele Menschen wären einem hohen finanziellen Risiko ausgesetzt. Daher bleibt der Erhalt und die Weiterentwicklung eines gerechten Sozialstaates eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe.
Sozialstaat in Niederösterreich – Nachholbedarf bei Wohnen, Gesundheit & Arbeit
Auch in Niederösterreich wurde in den letzten Jahren immer mehr der Sozialstaat abgebaut. Das zeigt sich zum Beispiel bei den Wohnkosten: Diese sind in den letzten zwei Jahren um ca. 11 Prozent gestiegen. Das liegt vor allem daran, dass sehr wenig neuer geförderter Wohnraum entsteht.
Auch beim Thema Gesundheit gab es in den letzten Jahren zu wenig Investitionen. In einem Geheimpapier wurden nun schon Spitalsschließungen und -zusammenlegungen geplant. Einige Krankenhäuser weisen bauliche und hygienische Mängel auf, wie aus einem Bericht des Landesrechnungshofs hervorgeht. Gleichzeitig mangelt es an Medizinern und Medizinerinnen sowie an Pflegepersonal.
Beim Thema Arbeit fehlt es in Niederösterreich immer wieder an schnellen Unterstützungsangeboten für Arbeitslose. Durch Firmeninsolvenzen wie die Kika/Leiner-Pleite steigt die Arbeitslosigkeit weiterhin an – momentan sind mehr als 65.000 Menschen in Niederösterreich ohne Job. Gleichzeitig werden Unterstützungsangebote für Langszeitarbeitslose wie beispielsweise das Marienthal-Projekt zurückgeschraubt.
Auch in anderen Bereichen gibt es noch Nachholbedarf: Niederösterreich hat viel zu wenige Betreuungsplätze für Kinder. Nur 78,7 % der Zweijährigen haben Zugang zu einem Kindergartenplatz. Und auch im Pflegesektor herrscht Chaos. 450 Personen warten gerade auf einen Pflegeplatz, während gleichzeitig über 160 Betten leer stehen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Kontrast.at und wurde von uns abgeändert und wiederveröffentlicht.
Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Wenn Sie relevante Informationen zum Artikel beitragen können, schicken Sie uns doch eine Mail!