In Niederösterreich wächst die Sorge um die Zukunft der persönlichen Assistenz. Für viele Personen mit Assistenzbedarf ist die Betreuung unverzichtbar, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch steigende Kosten, veraltete Förderstrukturen und drohende Mehrbelastungen ab 2026 setzen Betroffene zunehmend unter Druck. Die Wiener Assistenzgenossenschaft (WAG) sah sich deshalb nun gezwungen, über 100 Pflegeassistenten beim AMS anzumelden. Während Wien den Zugang erleichtert, hält die schwarz-blaue Landesregierung an einem System fest, das Betroffene in finanzielle Not treibt und verweist lediglich auf laufende Gespräche.
Was persönliche Assistenz für Betroffene bedeutet
Persönliche Assistenz ermöglicht Menschen mit Behinderung, ihren Alltag selbstbestimmt zu gestalten. Die Unterstützung beginnt beim Aufstehen, beinhaltet Hilfestellung bei Haushaltstätigkeiten und umfasst beispielsweise auch die persönliche Begleitung zur Arbeitsstelle. Die Betroffenen entscheiden selbst, wer sie betreut und wie die Hilfe konkret organisiert wird. Diese Form der Unterstützung ist für Betroffene wie Hermine Gruber aus Scheibbs zentral, um nicht in stationäre Einrichtungen gedrängt zu werden, sondern aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Ab 2026 drohen Betroffenen nun höhere Eigenanteile, weil die Personalkosten steigen, die Landesförderung aber unverändert bleibt.
Gefährdete Selbstbestimmung, steigender finanzieller Druck
Das Land Niederösterreich fördert die persönliche Assistenz seit über 20 Jahren mit 22 Euro pro Stunde. Tatsächlich sind die Kosten für Personal, Sozialversicherung und Lebenshaltung seit 2003 aber massiv angestiegen.
Die Wiener Assistenzgenossenschaft (WAG), die auch Betroffene in Niederösterreich betreut, beziffert die tatsächlichen Kosten mittlerweile auf rund 39 Euro pro Stunde. Das führt zu einer Finanzierungslücke und hat steigende Selbstbehalte für die Betroffenen zur Folge. Viele Menschen mit Assistenzbedarf, wie Hermine Gruber aus Niederösterreich, können sich eine höhere Selbstbeteiligung nicht leisten.
Rechenbeispiel macht Finanzierungslücke deutlich
Ein konkretes Beispiel verdeutlicht die finanzielle Situation. Wer monatlich rund 200 Stunden persönliche Assistenz in Anspruch nimmt – das entspricht etwa 6,5 Stunden Unterstützung pro Tag – hat Gesamtkosten von etwa 7.800 Euro (200 Stunden x 39 Euro pro Stunde). Betroffene Personen erhalten Pflegegeld von rund 1.175 Euro (Pflegegeld Stufe 5). Die Landesförderung in Niederösterreich liegt seit 2003 bei 22 Euro pro Stunde und summiert sich bei 200 Stunden auf 4.400 Euro. Trotzdem bleibt eine Finanzierungslücke von etwa 2.225 Euro monatlich, die von den Betroffenen selbst getragen werden muss.
200 Stunden x 39 Euro = 7.800 Euro (monatliche Gesamtkosten)
Pflegegeld Stufe 5 = 1.175 Euro
Landesförderung NÖ: 200 Stunden x 22 Euro = 4.400 Euro
Finanzierungslücke = 7.800 Euro – 1.175 Euro – 4.400 Euro = 2.225 Euro
WAG schlägt Alarm
In einer Presseaussendung macht die WAG nun auf den Ernst der Lage aufmerksam: Die Assistenzgenossenschaft musste insgesamt 102 Pflegeassistenten vorsorglich beim AMS zur Kündigung anmelden – wegen unzureichender Förderungen in Niederösterreich.
Christoph Dirnbacher, geschäftsführender Vorstand der WAG Assistenzgenossenschaft warnte bereits vergangenen Oktober vor einer massiven finanziellen Schieflage:
„Die Förderhöhe ist völlig aus der Zeit gefallen. Seit Jahren weisen wir auf die Schieflage hin – doch passiert ist nichts.“
Persönliche Assistenz: Strenge Zugangsvoraussetzungen in NÖ
In Niederösterreich gelten österreichweit die strengsten Zugangsvoraussetzungen zur persönlichen Assistenz. Anspruch besteht erst ab Pflegegeldstufe 5. Menschen mit Assistenzbedarf, die in eine niedrigere Einstufung fallen, erhalten somit keine Unterstützung – selbst wenn sie im Alltag dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind. Der Pflegebedarf muss also sehr hoch sein – mindestens 180 Stunden mit „außergewöhnlichem Pflegeaufwand“ sind monatlich vorzuweisen. Außerdem müssen Betroffene in einer eigenen Wohnung leben und dürfen keine Erwachsenenvertretung haben. Das macht den Anspruch in Niederösterreich deutlich schwieriger als etwa in Wien, wo man bereits ab Pflegegeldstufe 3 um persönliche Assistenz ansuchen kann.
Die strengen Zugangsvoraussetzungen sind nicht nur ein Nachteil für die Menschen in Niederösterreich, die auf persönliche Assistenz angewiesen sind, sondern werden auch von internationalen Monitoringstellen und der Volksanwaltschaft kritisiert. Sie kritisieren, dass die Regelung nicht mit den Prinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar sei.
“Unhaltbarer Zustand”
Das Land Niederösterreich verweist angesichts der WAG-Aussendung auf laufende Gespräche und eine angestrebte, österreichweit einheitliche Lösung. Ein entsprechender Antrag wurde im niederösterreichischen Landtag eingebracht, konkrete Ergebnisse liegen jedoch bislang nicht vor.
SPÖ-Landesparteivorsitzender Sven Hergovich kritisiert die Ungleichheit auf regionaler Ebene und betont:
„Das ist ein unhaltbarer Zustand. Persönliche Assistenz und Teilhabe darf keine Frage des Wohnorts sein.“
Auch die zuständige SPÖ-Landesrätin Eva Prischl fordert faire Bedingungen für betroffene Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher.
„Während Wien und andere Bundesländer die persönliche Assistenz längst ausgebaut und die Zugangsvoraussetzungen gelockert haben, hält Niederösterreich an überholten und ungerechten Regeln fest“, so Prischl.
Mit der drohenden Erhöhung der Eigenanteile ab 2026 spitzt sich die bereits angespannte Situation weiter zu. Zwischen föderalen Kompetenzen, sozialen Verpflichtungen und Budgetzwängen steht viel auf dem Spiel. Wird persönliche Assistenz in Niederösterreich gesichert, oder bleibt sie ein Luxus, der von der Finanzsituation abhängig ist? Für Betroffene wie Hermine Gruber aus Scheibbs ist die Antwort existenziell: Selbstbestimmung darf keine Frage des Kontostands oder des Bundeslands sein.
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